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Unnötige Vollsperrung

Contributo apparso sulla NZZ del 15 dicembre 2015 

Stellen Sie sich vor, wir müssten am 28. Februar 2016 über die Masseneinwanderungsinitiative abstimmen, und seit einiger Zeit wanderten mehr Personen aus als ein. Wir würden sagen: Was uns da unterbreitet wird, ist unnötig, wir legen ein Nein ein! Genau so liegen die Dinge bei der Diskussion über die zweite Strassenröhre am Gotthard. Mit der Veröffentlichung der jüngsten Expertise des Bundesamtes für Strassen (Astra) zum Zustand des Gotthardstrassentunnels wird klar, dass alle bisherigen Annahmen überholt sind und sich die Situation radikal verändert hat.

Der Zustand des Tunnels ist besser, als bisher angenommen wurde. In der «Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über den Strassentransitverkehr im Alpengebiet» vom 13. September 2013 steht Folgendes: «Zwischen 2020 und 2025 muss der dannzumal seit 40 Jahren in Betrieb stehende (Gotthard-)Tunnel saniert und erneuert werden. Ohne diese Arbeiten könnten die Funktionstüchtigkeit und somit die Sicherheit im Gotthard-Strassentunnel ab 2025 nicht mehr vollumfänglich gewährleistet werden.» Ferner heisst es dort, sollte die zweite Röhre gebaut werden, die frühestens um 2030 fertiggestellt wäre, müsste der bestehende Tunnel bis spätestens 2025 wegen Überbrückungsmassnahmen während 140 Tagen vollumfänglich gesperrt werden.

Diese Umstände haben sich gemäss dem Bericht des Astra vom 11. November 2015 nun drastisch verändert. Nach vertieften, zwischen 2013 und 2015 durchgeführten technischen Abklärungen heisst es darin Folgendes: «Nach heutigem Kenntnisstand wird sich der Zustand wie bisher prognostiziert langsam und in normalem Rahmen verschlechtern. Es wird davon ausgegangen, dass keine umfassenden Instandhaltungsmassnahmen für die Zwischendecke, die eine Vollsperrung des Tunnels erfordern, bis 2035 notwendig werden.» Gemäss Vorlage von Bundesrat und Parlament soll der Gotthardstrassentunnel den EU-Normen für neue Tunnel angepasst werden; das geht weiter als eine Sanierung zur Gewährleistung von Funktionalität und Sicherheit. Der zur Debatte stehende Ansatz enthält zwei entscheidende und kostentreibende Eingriffe, die weder sicherheitsrelevant noch rechtlich zwingend sind: erstens die Anhebung der Zwischendecke von 4 Meter 50 auf 4 Meter 80 und zweitens die Erhöhung der Querneigung von 2 auf 2,5 Prozent. Die beiden Massnahmen allein sind Grund für die Schliessung des Tunnels während tausend Tagen, die ihrerseits als Begründung für den Bau einer zweiten Röhre mit Gesamtkosten von 2,8 Milliarden Franken dient.

Der Arlberg-Strassentunnel in Österreich, der mit seiner Länge von 14 Kilometern als «Zwillingstunnel» des Gotthardstrassentunnels bezeichnet werden kann, wird zurzeit gemäss den EU-Normen für existierende Tunnels für rund 170 Millionen Franken saniert. Ziel dieser Sanierung sind die Verbesserung der Funktionalität und die Erhöhung der Sicherheit. Eingriffe, die darüber hinausführen, sind nicht vorgesehen. Während das EU-Mitglied Österreich den Arlberg gemäss den EU-Regeln für bestehende Tunnel saniert, orientiert sich das Nicht-EU-Mitglied Schweiz beim Gotthard an den EU-Richtlinien für neue Tunnel.

Zudem werden in 20 bis 25 Jahren vorwiegend abgasarme Fahrzeuge den Tunnel durchfahren, was zu weniger Korrosion und damit zur Verlängerung der Lebensdauer des Bauwerks sowie zu einer weiteren Vereinfachung von Sanierungs- und Unterhaltsarbeiten führen wird. Das senkt Kosten und macht Vollsperrungen auch in Zukunft unnötig. Schon heute verkehren die ersten Fahrzeuge mit Fahrassistenz, die das Einhalten der Fahrspur garantiert. Damit wird die Sicherheit nicht nur im Gotthardstrassentunnel, sondern auf allen Strassen, sei es mit oder ohne Gegenverkehr, erheblich erhöht. Diese Techniken werden in zwanzig Jahren Standard sein, so wie es heute die Sicherheitsgurte und Airbags sind.

Diese Fakten machen deutlich, dass der Gotthardstrassentunnel noch während mindestens zweier Jahrzehnte ohne einen einzigen Tag Vollsperrung weiterbetrieben werden kann. Um die Abstimmung über eine zweite Röhre abzusagen, ist es zu spät. Umso mehr drängt sich an der Urne ein Nein zur Vorlage von Bundesrat und Parlament auf. So erhält das Bundesamt für Strassen die Gelegenheit, in aller Ruhe ein Unterhaltskonzept auszuarbeiten, das neusten Erkenntnissen entspricht und zukünftigen Entwicklungen Rechnung trägt. Schliesslich stehen Gesamtkosten von 2,8 Milliarden Franken für einen kompletten Umbau des bestehenden Tunnels samt zweiter Röhre einer einfachen Sanierung für 250 Millionen Franken gegenüber.

Stefan Krebser ist Präsident des Vereins Rail Valley für die Förderung der Innovation im Schienenverkehr mit Sitz in Sessa. Er gehört der Grünen Partei an.